Irgendwo im Nordwesten der USA, irgendwann in den
1950er-Jahren. An einem See, der von Wäldern und Bergen
umschlossen ist, wo die Winter lang sind und die Luft
immer nach Wasser riecht, wachsen Ruth und Lucille in
einem kleinen Ort namens Fingerbone bei ihrer Großmutter
auf. Ihre Mutter ist tot – sie ist mit dem Auto in den
See gestürzt. Ihr Vater ist bereits vorher abhanden
gekommen.
So ist es nicht verwunderlich, dass in der Stimme der
Erzählerin Ruth von Beginn an Einsamkeit mitschwingt.
Dabei haben es die Mädchen zunächst recht gut, denn die
Großmutter ist eine freundliche Frau, die sich
gewissenhaft um Ruth und die jüngere Lucille kümmert.
Doch als sie stirbt, kommt nach einem kurzen Intermezzo
mit zwei völlig überforderten Großtanten die einzige
noch greifbare Verwandte ins Haus: Sylvie, die jüngste
Schwester der Mutter. Eine Vagabundin.
Mit ihrer Ankunft – so scheint es jedenfalls auf den
ersten Blick – verliert das Zuhause von Ruth und Lucille
seinen Halt. Denn Sylvie ist zwar ernsthaft gewillt, für
die Mädchen zu sorgen, doch es fehlt ihr jedes Talent
zum „Housekeeping‟ (so der Titel des Originals). Sie
lässt die Mädchen von den Deckeln von
Waschmittelpackungen essen und aus Marmeladegläsern
trinken, sammelt leere Konservendosen und Zeitungen und
unternimmt nichts gegen Grillen und Mäuse im Haus.
Außerdem kleidet sie sich seltsam, stromert umher und
hat keinerlei Zeitgefühl.
Einen Frühling und einen Sommer hindurch beobachten die
Mädchen ihre Tante und versuchen, sich einen Reim auf
sie zu machen. In diesem halben Jahr sind sie sich näher
als je zuvor – und einsamer als je zuvor, denn sie
fühlen sich nirgendwo zugehörig. Sylvie erscheint ihnen
unberechenbar und fremd; die Nachbarn und
Schulkameradinnen, die ihren Haushalt mit Argwohn
betrachten, schüchtern sie ein. Am Ende dieses Sommers
wird sich das ändern. Lucille wird sich auf die Seite
der Anständigen schlagen und sich zielstrebig und
hartnäckig einen Platz unter ihnen erobern. Ruth dagegen
wird sich immer weiter in Sylvies Bann ziehen lassen.
Und wir werden mit in ihren Bann gezogen. Das ist das
Wunderbare an diesem Roman: Mit welcher Ruhe und
sprachlichen Kraft er uns Sylvies Anderssein miterleben
lässt. Marilynne Robinson hat ganz stille, fast
beiläufig wirkende und darum unwiderstehliche Bilder
dafür gefunden. So sehen wir mit Ruths Augen, wie Sylvie
während der alljährlichen Überschwemmung von Fingerbone
aus dem bewohnbaren, von Kerzen erhellten oberen Stock
in die dunkle, überflutete Küche hinabsteigt und mit der
Dunkelheit verschmilzt. Wir spüren Ruths Angst, als sie
Sylvie in die Wälder begleitet und dann begreift, dass
die Tante keinen Gedanken darauf verwendet, ob sie heil
wieder nach Haus kommen. Zugleich beobachten wir, welche
Maßnahmen Lucille ergreift, um den Sprung ins Lager der
Anständigen zu schaffen, und welcher Graben sich dadurch
zwischen den Schwestern auftut.
Doch Haus ohne Halt schildert nicht nur die Beziehung
zwischen diesen drei Menschen, er zeigt auch, in welcher
Welt sie sich bewegen. Es ist eine kühle, leere Welt,
die mit ihren Überschwemmungen, ihrer Dunkelheit, ihren
riesigen Wäldern immer stärker sein wird als die
Menschen. Eine Welt, die alle auf Abruf bewohnen, in der
alle nur einen Schritt von der Heimatlosigkeit entfernt
sind.
Marilynne Robinson: Haus ohne Halt
Übersetzt von Sabine Reinhardt-Jost
edition fünf
ISBN 978-3-942374-23-1
Original: Housekeeping
Faber & Faber
ISBN 0571322751
Übersetzt von Sabine Reinhardt-Jost
edition fünf
ISBN 978-3-942374-23-1
Original: Housekeeping
Faber & Faber
ISBN 0571322751